Der Schreck sitzt im Nacken – Polyvagaltheorie trifft manuelle Therapie
Eine 24 Jahre alte Patientin unserer Praxis hatte einen Fahrradunfall und ist dabei schwer gestürzt. Glücklicherweise war die Hobbysportlerin durch hartes Training und viel Sport bald wieder genesen. Doch in bestimmten Situationen hatte sie das Gefühl, als würde eine Handbremse in ihrem Körper existieren, die sie in ihren Alltagsbewegungen irgendwie zurückhielt. Sie vermied bestimmte Bewegungen, die sie mit den Schmerzen vom Unfall verband. Sie fühlte sich gehemmt. Ihre Beine waren schwer.
Was war passiert? Die körperlichen Unfallfolgen waren doch eigentlich auskuriert?
Was bei einem Sturz passiert - auch die Psyche ist betroffen
Jeder von uns ist schon einmal gestürzt und kennt die Reaktionen des Körpers: Man zieht die Schultern hoch, die Beugung des Kopfes wird verstärkt und insbesondere die Halsmuskulatur zieht sich schlagartig zusammen. Die Atmung ist flach, die Mimik reduziert bis starr. Der Stresspegel ist erhöht und kann sogar in eine Angstattacke münden.
Die gängigen Sprichworte „Mir ist der Schrecken in die Glieder gefahren“, „Mir sitzt die Angst im Nacken“ oder der Ausdruck „Schockstarre“ beschreiben das Zusammenspiel von Körper und Psyche in solchen Situationen sehr treffend.
Wie werden Stressreaktionen ausgelöst?
Stressreaktionen sind im Allgemeinen schwer zu beschreiben, da sie von einem Nervensystem ausgelöst werden, welches autonom arbeitet. Denn jede dysfunktionale Veränderung, sei es nun physisch oder psychisch, aktiviert das autonome Nervensystem. Um das körperlich-seelische Gleichgewicht wiederherzustellen, arbeitet das Nervensystem auf verschiedenen Ebenen: nerval, hormonell und immunologisch.
Was bei einer körperlichen Stresssituation im Gehirn passiert
In Stresssituationen werden hierarchische Systeme im Gehirn aktiviert, um mit der Bedrohung oder der Herausforderung umzugehen.
Die sensomotorische Information wandert zuerst zum Zwischenhirn, das Erregungszustände steuert (Thalamus). Dort werden die Informationen auf zwei Wegen weitergeleitet: einmal zur Amygdala, dem „Mandelkern“ des Gehirns, der für die Angststeuerung zuständig ist. Dieser „Wachmann" informiert dann in rasender Geschwindigkeit das autonome Nervensystem. Stresshormone werden ausgeschüttet.
Auf dem zweiten Weg wird der mediale Präfrontal-Kortex, der einen Teil des Frontallappens unserer Großhirnrinde darstellt, zum Supervisor. Er wägt ab und analysiert.
Starke Emotionen wie Wut, Angst oder Schmerzen hemmen den Supervisor, was zu einer Dsyregulation des Systems führt. Um das System wieder ins Lot zu bekommen, kann man versuchen, den Wachmann zu beruhigen und damit eine effektive Stressverarbeitung kognitiv leisten.
Diese zwei Wege nennt der US-amerikanischen Psychologe und Hirnforscher Joseph LeDoux auch „Low road, quick and dirty“ und „High road, slow but accurate”
Polyvagal-Theorie und Social Engagement System (SES)
Das autonome Nervensystem wird anatomisch und physiologisch in Sympathikus und Parasympathikus unterteilt. Gemäß der Polyvagal-Theorie nach Porges kann jegliche Aktivität in diesen Bereichen über die Variabilitätsmessung der Herzfrequenz festgestellt werden. Durch die neurologische Verbindung zwischen Körper und Gehirn können die psychischen und physischen Reaktionen bei der Regulierung von Affekten erklärt werden.
Die vagale Theorie gibt es schon sehr lange. Viele Masseure und Therapeuten haben bereits bewusst oder unbewusst mit dem sogenannten Vagus-Nerv gearbeitet.
Das Interessante an der Polyvalgal-Theorie ist die klare Unterscheidung von zwei getrennten, hierarchischen vagalen Regulations-Systemen.
Der Nervus Vagus ist der fünfte Hirnnerv und zieht mit verschiedenen sensiblen Nervenfasern zum Zwerchfell. So ist er zum Beispiel für einen Schluckauf und für die Verdauung zuständig.
Der Vagus-Anteil, der am Rücken verläuft (dorsaler Vagus) ist bei einer Stressreaktion für die Dissoziations-Immobilisations-Reaktion zuständig, im Fachjargon „Frezze Shutdown Reaktion“ genannt. Hiermit ist zum Beispiel die Schockstarre oder das Zusammenziehen der Muskeln gemeint.
Der am Bauch verlaufende Vagus-Anteil (ventraler Vagus) macht in der gleichen Schocksituation etwas ganz anderes: Er reguliert die Herz- und Bronchienaktivität. In
Verbindung mit den anderen Hirnnerven 6,7,9,10 und 11 ist er für das Social-Engagement-System (SES) zuständig und somit für das Sozialverhalten, das uns das Überleben sichert.
Traumatherapie nach Levine
Der Trauma-Experte Peter Levine hat nach jahrelangen Beobachtungen wilder Tiere die Traumatherapie (englisch: Somatic-Experience-Therapy) entwickelt. Gemäß Levine ist ein Trauma eine Störung des Nervensystems. Das Schockerlebnis hat Spuren im Organismus hinterlassen, da der Stress nicht richtig aus dem Körper ausgeleitet werden konnte. Ziel der Therapie ist es nun, die Amygdala, also den „Wachmann“ des Nervensystems, körperlich zu beruhigen und zu entspannen. Dies geschieht durch Muskelübungen. Levine hat verschiedenen Muskeln verschiedene Zustände zugeschrieben: So ist zum Beispiel der Iliopsoas ein Muskel, der viel Stress anzeigt. Durch gezielte Übungen nach der Methode von Levine kann sich das Nervensystem beruhigen, und der Schonzustand wird endgültig aufgegeben.
Spezielle Atemübungen führen dazu, einen flachen Atem zu einem tiefen, beruhigten Atem zu verändern und somit ebenfalls das Nervensystem zu beruhigen.
Auch Yoga-Übungen können den Körper nach Schockzuständen wieder „fließen lassen“.
Die Praxis Schütza hat sich auf die beschriebenen Therapien spezialisiert und kann Ihnen ein passendes Therapieprogramm für die Behandlung von Traumata, Schockmomenten und Stürzen zusammenstellen. Sprechen Sie uns gerne an!